von innerer und äußerer landnahme - umkämpfte räumeEin Einführungstext von Stefanie Graefe (lokale Kongressvorbereitungsgruppe Hamburg)
Landnahme – ein rätselhafter, ein
sperriger Begriff. Und doch wird
der BUKO 28 ihm vier Tage lang
Platz einräumen. Platz für Diskussion,
Austausch und Information,
Platz aber auch für die Entwicklung
von Strategien – wider die
Landnahme von oben, für die Vielfalt
möglicher Landnahmen von
unten.
Was die Herkunft des Begriffs Landnahme angeht, ist ein gern zitierter Orientierungspunkt die Schrift Rosa Luxemburgs zur Kapitalakkumulation. (1) In diesem Text beschreibt Luxemburg den grundsätzlich expansiven Charakter der kapitalistischen Akkumulationsdynamik vor dem Hintergrund des kolonialen Imperialismus. Ihre auf knapp vierhundert Seiten entwickelte These komprimiert sie in der Feststellung, „dass die kapitalistische Akkumulation zu ihrer Bewegung nichtkapitalistischer sozialer Formationen als ihrer Umgebung bedarf, in ständigem Stoffwechsel mit ihnen vorwärts schreitet und nur so lange existieren kann, als sie dieses Milieu vorfindet“. (2) Diese „nichtkapitalistischen sozialen Formationen“, wie zum Beispiel bäuerliche Produktionsweisen oder traditionelle Sozialordnungen in den kolonisierten Ländern, werden im Moment ihrer imperialistischen Erschließung als eigenständige, nicht-kapitalistische Formationen zerstört. Kapitalistische Landnahme nimmt“ also nicht nur, sondern setzt bestehende Gesellschaftsformen einer fundamentalen und destruktiven Transformation aus: Das genommene Land bleibt nach dem Raub nicht dasselbe, sondern es verändert sich von Grund auf; eben und gerade auch, wie Luxemburg zeigt, im Ganzen des „inneren“ sozialen Lebenszusammenhangs. Und gerade das, diese innere Landnahme ermöglichte dem imperialistischen Projekt seine weltweite Durchsetzung. Letzte Schranke nicht in Sicht
Trotz ihrer desillusionierenden Beschreibung der Maßlosigkeit kapitalistischer Expansion geht Rosa Luxemburg erstaunlicherweise doch von der Existenz einer absoluten Grenze aus: Wenn nämlich das nicht-kapitalistische Außen vollständig in Wert gesetzt und damit zum Innen geworden wäre und es somit kein nährendes äußeres „Milieu“ der Kapitalakkumulation mehr gäbe – dann erreicht die Geschichte, jedenfalls in Luxemburgs Vision, „denjenigen Moment, wo die Kapitalsherrschaft ihre letzte Schranke erreicht haben wird“. (3) Heute wissen wir (4), dass Rosa Luxemburg mit ihrer Beschreibung kapitalistischer Landnahme zugleich Recht und Unrecht hatte. Dass die Dynamik der kapitalistischen Akkumulation längst den gesamten Globus ergriffen hat und Länder, Kontinente, Produktionsweisen, soziale Lebenszusammenhänge in eben jener Doppelbewegung aus Destruktion und Transformation unter ihr Kommando gebracht hat, wird kaum jemand bestreiten. Eine „letzte Schranke“ ist jedoch nirgends in Sicht. Statt dessen greifen aggressive kapitalistische Expansionsstrategien auf dem globalisierten Markt mit tief greifenden Erschließungen des „Inneren“ ineinander sei dies das Wissen, die Kreativität, Emotionalität oder auch schlicht: die Lebenszeit derjenigen, die weltweit ihre Arbeitskraft verkaufen; sei dies die Transformation des Körpers in eine „zirkulations- und eigentumsfähigeWare“ (5), sei dies die Privatisierung vormals nicht-ökonomischer gesellschaftlicher Sektoren wie öffentliche Dienste, soziale Sicherungssysteme, Wasser, Bildung, Kultur, Gesundheit – die Liste ließe sich noch lange fortführen. Innere und äußere
Landnahme heute
... bedeutet, dass die ganze Subjektivität, der „ganze Mensch“ in zunehmend entgrenzten Arbeitsregimen potenziell produktiv gemacht wird und gleichzeitig immer mehr Menschen, unter ständiger Androhung umfassender „Freisetzung“ vom Arbeitsmarkt, im selben Atemzug prekär werden – ohne dass damit eine Einheitlichkeit der Erfahrung behauptet werden könnte: Prekaritäten sind vielmehr vielfältig, widersprüchlich und herrschaftsförmig organisiert. Es bedeutet aber auch, dass nicht mehr nur der Körper als Arbeitsmittel (natürlich aber auch!), sondern zugleich der Körper als kapitalisierbare Ressource in Form von Zellen, Genen oder Organen in den Prozess der Kapitalverwertung eingeht – in Kombination mit einer Gesundheitsideologie, die uns die marktgerechteWartung von Körper, Geist und Seele unter Androhung von sozialem Ausschluss als lebenslange Anforderung aufbürdet. Es bedeutet, dass genetische, biologische und Wissensressourcen z.B. von indigenen Kulturen als exklusive Profitquellen von Agrarkonzernen patentrechtlich „geschützt“ werden und „Life Industries“ zu Schlüsselindustrien werden. Es bedeutet, dass ein breites Spektrum neokolonialer Strategien den historischen Kolonialismus – als klassisches Vorbild für Landnahme – ebenso transformiert wie fortführt: in den rassistischen Migrationsregimen des globalen Nordens, in „humanitär“ legitimierten Menschenrechtskriegen, in der von privatwirtschaftlichen Konzernen vorangetriebenen Militarisierung im Süden oder in der im Norden staatlicherseits gern gepflegten Tradition des ehrenvollen Gedenkens an koloniale Völkermörder. Das heißt: Arbeit, Biopolitik und (Neo-)Kolonialismus sind ganz bestimmt nicht die einzigen, aber doch wichtige Terrains, auf denen sich globale kapitalistische Landnahmen derzeit abspielen. Kein Außen, nirgends
Wenn es stimmt, dass wir heute von einem vollständig ausgebildeten Weltmarkt im Sinne einer auf Dauer gestellten „ursprünglichen Akkumulation“ ausgehen können (6), dann geht es nicht einfach um eine weitere Etappe in einem Expanisonsprozess, sondern um einen qualitativen Sprung: Es gibt nichts mehr, was als prinzipielles Außen gegenüber kapitalistischer Inwertsetzung denkbar wäre – keine Natur, keine Kultur, kein Selbst. Paradoxerweise gibt es genau deshalb auf der anderen Seite aber auch kein Innen mehr, das – als Privates, Ureigenes, ganz Persönliches – für Kapitalisierung und Vergesellschaftung per se unerreichbar wäre. Dies war zwar immer schon so – auch die fordistische „Privatsphäre“ etwa war hochgradig durch innere Landnahmen z.B. durch Geschlechterideologien geprägt. Trotzdem lässt sich „von einer verschärften, direkten Unterwerfung der eigenen Alltagspraxen unter kapitalistische Logik sprechen“ (7), wenn eigentlich jeder Bereich des Lebens warenförmig werden kann – und soll. Und in eben diesem Prozess wird es immer schwieriger, „innere“ und „äußere“ Landnahmen glasklar voneinander abzugrenzen. Selbst emanzipatorische Konzepte sind vor Landnahme nicht gefeit. Auch Herrschaftsstrukturen treten uns immer mehr in unseren eigenen Begriffen, Konzepten und Wünschen, als unser eigenes „Inneres“ gegenüber: Forderungen nach selbstbestimmtem Arbeiten, Wohnen, Leben; nach mehr Autonomie und weniger Staat finden nicht erst seit Hartz IV eine teilweise groteske Übersetzung in herrschenden politischen Strategien und Rhetoriken. Angesichts der Perfidie dieser ideologischen Landnahme sehnsüchtig auf die guten alten Zeiten des fordistischen Normaldaseins zurückzublicken, kann darauf jedoch kaum eine befriedigende Antwort sein (8): Die antiautoritären Kämpfe der 1970er und 1980er Jahre haben schließlich mit vollem Recht allen auf hegemoniale (weiße, patriarchale, bürgerliche) „Normalität“ zielenden Vergesellschaftungsvorschriften eine klare Absage erteilt. Auch der BUKO steht in dieser Tradition. Wider die globale Expansion des Kapitals ...
All dies bedeutet nun aber gerade nicht, dass es unmöglich wäre, über die Logik kapitalistischer Wertschöpfung und Produktivmachung hinauszukommen. Der faktischen Ökonomisierung sämtlicher Lebenszusammenhänge eine praktische Nicht-Unterwerfung, eine „Insubordination des Lebens“ (9) als „widerständiges Hinterland“ entgegenzusetzen ist natürlich keine leichte Aufgabe. Denn dieses Hinterland ist ja paradoxerweise genau das „Reservoir, aus dessen Potenzen der Kapitalismus immer wieder seine Energien bezieht, eben jenes nicht reduzierbare Areal von Kreativität, Fantasie, von Bedürfnissen“. Doch wenn es stimmt, dass die Ökonomisierung niemals vollständig sein wird, weil sie den Widerspruch von Landnahme und Widerstand eben nicht aufhebt, sondern „ganz ins Individuum hinein“ verlegt (10), bietet genau das wiederum Potenzial für Revolte( n). Die zentrale Frage auf dem Kongress wird die nach den Formen von Landnahme sein, die wir der uneingeschränkten Inwertsetzung des gesellschaftlichen Lebens entgegensetzen wollen und können. Ging es auf dem vorausgegangenen BUKO unter der Überschrift „Ende der Bescheidenheit“ darum, das Konzept der Aneignung als eine politische Praxis begreifbar zu machen, die über die Skandalisierung von Herrschaftszuständen, über Forderungen nach Anerkennung von Heterogenität oder nach Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums hinausreicht 11), so fordert uns der Begriff Landnahme nun dazu auf, dieses Begreifbarmachen weiterzuführen und zu konkretisieren: Welches „Land“ wollen wir uns denn wieder-)aneignen, transformieren oder aber auch – ggf. – destruieren? Wie können die Orte der globalen kapitalistischen Landnahme als umkämpfte Terrains sicht- und lebbar gemacht werden? Auf welche Ziele und Forderungen können und wollen wir uns beziehen? Was beispielsweise ist mit „sozialen Rechten“ angesichts der umfassenden Inwertsetzung von Körper, Subjektivität und natürlichen Ressourcen gemeint? ... die globale Expansion sozialer Kämpfe
Ob mensch Immanuel Wallersteins These, wonach die Kämpfe der kommenden 50 Jahre über die nächsten 500 Jahre entscheiden werden, plausibel findet oder nicht: Ganz bestimmt ist nicht zu erwarten, dass diejenigen, „die Privilegien haben, diese kampflos, einfach auf Grund eines Appells an ihre ethische Verantwortung oder gar historischeVision, aufgeben werden. Man kann davon ausgehen, dass sie versuchen werden, ihre Privilegien zu bewahren. Jede andere Vision wäre unverständlich und unrealistisch.“ (12) Ebenso realistische wie radikale Visionen zu entwickeln ist demnach das, was die Gegenwart uns abverlangt. Dazu lädt der BUKO 28 ein. Anmerkungen:
1) Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus. In: Gesammelte Werke, Berlin 1981, Bd. 5 2) Ebd., S. 315 3) Ebd., S. 365 4) Die Verwendung der Personalpronomen „wir“ oder „uns“ in diesem Text zielt nicht auf ein vereinheitlichtes Kollektiv-Ich, in dem die vielfältigen unterschiedlichen Lebensformen, politischen Auffassungen, sozialen Positionen etc. der Angesprochenen negiert werden, sondern - imGegenteil - ausdrücklich auf die Heterogenität, Dynamik und Unabgeschlossenheit, die jede Form des Sprechens im Plural erst ermöglicht. 5) Erika Feyerabend, Sklavenhalter unter sich. Wie menschliche KörperWare werden. In: Fantômas Nr.2, 2002, S. 26 6) Michael Hardt, Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung. Frankfurt/New York 2002, S. 266 7) Iris Nowak, Prekäre Arbeit, prekäres Leben. Der Abschied vomWohlfahrtsstaat als paradoxer Ausgangspunkt einer linken Politik der Gegenwart. In: Fantômas Nr. 6, 2004, S.24 8) Was keinesfalls meint, dass Forderungen nach sozialen Rechten und garantierter sozialer Absicherung für alle illegitim oder nicht notwendig wären – ganz im Gegenteil. 9) John Holloway, Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen. Münster 2002, S. 225 10) Martin Dieckmann, Gerechtigkeit und Freiheit – ein langer Marsch durch die Krise. In: Die Aktion, Heft 208, 2004, www.labournet.de/diskussion/ arbeit/prekaer/freiheit.html 11) Vgl. „Widerstand gegen Sozialkahlschlag: Welche Formen der Aneignung sind notwendig?“ Interview mit Thomas Seibert von Thomas Klein. junge welt, 28.05.2004, www.jungewelt.de/2004/05-28/020.php 12) ImmanuelWallerstein, Utopistik. Historische Alternativen des 21. Jahrhunderts. Wien 2002, S. 95 |