Indien: #MeTooUrbanNaxal

20.12.2018, Indien

Seit Januar 2018 kam es zu einer Reihe von Hausdurchsuchungen und Verhaftungen von Arbeiter_innen, Gewerkschafter_innen, sozialen Aktivist_innen, Journalist_innen, Anwält_innen und Künstler_innen im Zusammenhang der Ermittlungen zu den Gewaltausbrüchen in Bhima Koregaon, einem Dorf 30 Kilometer nordöstlich von Pune im Bundesstaat Maharasthra. Am 1. Januar 2018 fand dort eine Großkundgebung anlässlich des 200. Jahrestages der „Schlacht von Koregaon“ statt; ein Gefecht zwischen britischer Kolonialmacht und Resten des Marathenen-Reiches. Hinweise und Zeugenaussagen legen nahe, dass die Ausschreitungen von Mitgliedern rechtsgerichteter Hindu-Gruppen ausgegangen sind. Die inhaftierten linken Aktivist_innen sind Mitglieder unterschiedlicher sozialer Bewegungen in Indien. Sie werden nun unter dem Anti-Terror-Gesetz Unlawful Activities Prevention Act (UAPA) beschuldigt, aktive Mitglieder der verbotenen Communist Party of India-Maoist (CPI-Maoist), der Naxaliten-Bewegung zu sein. Kommt es zu einer Verurteilung nach dem UAPA-Gesetz, drohen ihnen lange Gefängnisstrafen.

In den sozialen Medien haben unter dem Hashtag #MeTooUrbanNaxal Bürgerinnen und Bürger gegen die Kriminalisierung der Aktivist_innen von sozialen Bewegungen protestiert.

Laufende aktuelle Nachrichten zum Bhima-Koregaon“ -Fall und anderen politischen Entwicklungen in Indien sind unter anderen auf der Website free-them-all.net zu finden:

Auch auf www.labournet.de finden sich regelmäßig Artikel zur Repressionswelle in Indien.

In dem Artikel „Bleierne Zeit in Indien?“ von Jürgen R. Gertsch, der zuerst in der Zeitschrift SÜDASIEN 4/2018 erschienen ist, werden die Verhafteten porträtiert und so auch die Plausibilität der gegen sie erhobenen Vorwürfe. Wir dokumentieren den Artikel mit Genehmigung des Autors und der SüDASIEN.

 

 

Bleierne Zeit in Indien? Linke Aktivist(inn)en und Intellektuelle unter Druck
 von Jürgen R. Gertsch

Am 1. Januar 2018 fand in Bhima Koregaon – ein Dorf 30 Kilometer nordöstlich von Pune
im Bundesstaat Maharasthra – eine Großkundgebung anlässlich des 200. Jahrestages
der „Schlacht von Koregaon“ statt; ein Gefecht zwischen britischer Kolonialmacht und
Resten des Marathenen-Reiches. Mit Bezug auf gewalttätige Ausschreitungen wurden
am 6. Juni 2018 auf Anordnung der Strafverfolgungsbehörden in Maharasthra fünf pro-
minente Menschenrechtsaktivist(inn)en verhaftet: Sudhir Dhawale, Surendra Gadling,
Shoma Sen, Mahesh Raut und Rona Wilson. Weitere Verhaftungen folgten. Im Folgenden
porträtiert der Autor die Verhafteten und so auch die Plausibilität der Vorwürfe.

 

Die Verhafteten sollen am Vortrag der Ausschreitungen in Bhima Koregaon zu Gewalttaten aufgerufen haben. Außerdem sei die Versammlung durch die verbotene Communist Party of India (Maoist) finanziert worden. Die Verhafteten werden insofern auch bezichtigt, „urbane Naxalit(inn)en“ zu sein - aktive Mitglieder der bewaffneten maoistischen Bewegung. Sie können laut dem Antiterrorgesetz UnlawfulActivities (Prevention) Act (UAPA) bis zu 180 Tage ohne Anklageschrift in Haft genommen werden. Die Beweislast ist umgekehrt, die Beschuldigten müssen ihre Unschuld beweisen.

 

Systematische Repression

 Im Zuge der gleichen Ermittlungen kam es am 28. August 2018 erneut zu einer landesweiten Polizeiaktion und zur Festnahme von Sudha Bharadwaj, Vernon Gonsalves, Varavara Rao, Gautam Navlakha und Arun Ferreira (siehe Heft 3 SÜDASIEN). Durchsucht wurden auch Wohnungen und Arbeitsplätze zahlreicher anderer Aktivist(inn)en aus sozialen Protestbewegungen und Gewerkschaften, sowie Wohnungen von Familienangehörigen. Davon betroffen waren unter anderen der Journalist Kranti Teluka, der Dalit-Aktivist Anand Teltumbde und Fr. Stan Swamy in Ranchi, der sich seit Jahren für die Adivasi in Jharkhand einsetzt.

Gegen die Verhaftungen reichten fünf bekannte indische Persönlichkeiten am 29. August 2018 beim Supreme Court in Delhi Beschwerde ein. Sie forderten die sofortige Freilassung der fünf am Vortag Verhafteten und eine vom Gericht eingesetzte Sonderkommission, damit eine unabhängige und objektive Untersuchung der Anschuldigungen gewährleistet würde. Der Supreme Court entschied, dass die fünf Aktivist(inn)en vorerst unter Hausarrest gestellt werden. Die eingereichte Beschwerde wurde vier Wochen später abgewiesen. In einer Mehrheitsentscheidung sprach das Gericht von ausreichenden Verdachtsmomenten, die die Festnahmen rechtfertigten und lehnte eine unabhängige Untersuchungskommission ab. Der Hausarrest wurde um weitere vier Wochen verlängert.

 

Stand der Prozessverfahren

 Für Gautam Navlakha endete der Haftprüfungstermin am 1. Oktober 2018 vorerst in Freiheit. Der High Court in Delhi hatte Verfahrensfehler bei seiner Festnahme festgestellt und den Hausarrest aufgehoben, wogegen der Bundesstaat Maharashtra umgehend Widerspruch einlegte. Dagegen scheiterte Sudha Bharadwaj am 3. Oktober 2018 vor dem Haryana/Punjab High Court mit seinem Antrag auf Freilassung.

 Vor dem zuständigen Gericht in Pune wurden am 22. Oktober 2018 neue Anschuldigungen gegen Surendra Gadling, Arun Ferreira und Sudha Bharadwaj vorgebracht. Wurde ihnen wie allen anderen bisher vorgeworfen, die Ausschreitungen in Bhima Koregaon zur Jahreswende 2018 angezettelt und Attentate auf hochrangige Regierungsvertreter geplant zu haben, behauptete die Polizei nun, dass die Anwaltsvereinigung Indian Association of People`s Lawyers (IAPL) eine Frontorganisation der Maoisten sei. Alle drei waren dort aktiv. Die neuen „Beweise“ stützten sich dabei auf dubiose Schriftstücke. Am 25. Oktober 2018 wurde in Hyderabad der Hausarrest gegen Varavara Rao verlängert, einen Tag später Anträge von Sudha Bharadwaj, Vernon Gonsalves und Arun Ferreira auf Freilassung auf Kaution abschlägig beschieden. Sie befinden sich seither in Untersuchungshaft.

 Für Gautam Navlakha und Varavara Rao sind weitere Anhörungen vor Gericht angesetzt. Den Polizeibehörden ist es bis 14. Dezember 2018 untersagt, Gautam Navlakha zu verhaften. Die gleiche gerichtliche Anordnung erging im Falle von Anand Teltumbde und Fr. Stan Swamy. Am 26. November 2018 wurde einem Antrag der Polizeibehörden auf Haftverlängerung um 90 Tage für Vernon Gonsalves, Arun Ferreira, Sudha Bharadwaj und Varavara Rao durch den Bombay High Court stattgegeben. Begründet wurde der Antrag unter anderem damit, dass sichergestelltes umfangreiches elektronisches Datenmaterial und die verschlüsselte Kommunikation zwischen einem der Beschuldigten und maoistischen Kadern noch ausgewertet werden müsse.

 

Wer sind die Festgenommenen?

 Die Aktivist(inn)en und Menschenrechtsverteidiger(inn)en haben bei einer Verurteilung lange Gefängnisstrafen zu erwarten.

Sudha Bharadwaj ist Gewerkschafterin, Menschenrechtsaktivistin und Anwältin und Mitglied des landesweiten Netzwerks WSS-Women Against Sexual Violenceand State Repression. Schwerpunkt ihrer Arbeit bildet seit über 30 Jahren die Verteidigung der Rechte von Arbeiter(inn)en, Dalit- und Adivasi-Gemeinschaften sowie anderer marginalisierter Gruppen in Chhattisgarh. Neben den vielen Verfahren als Anwältin von Arbeiter(inn)en aus den Bergbaugebieten Chhattisgarhs trat sie in Fällen von außergerichtlichen Tötungen durch die Polizei gegen Adivasi auf. Die Polizei berief sich auf vorgebliche Notwehrsituationen. Sudha Bharadwaj ist in dem Anwaltskollektiv Janhit engagiert, das Fälle von Landraub, Vertreibung, Verletzung von Waldrechten und Bestimmungen der Panchayat-Gesetzgebung (PESA) aufgreift. Bis vor kurzem war sie Vorsitzende der Bürgerrechtsorganisation People’s Union for Civil Liberties (PUCL) und ist Vizepräsidentin der IAPL. Sie arbeitet darüber hinaus als Gastprofessorin an der National Law University in Delhi und berät die Nationale Menschenrechtskommission von Indien.

Vernon Gonsalves ist Gewerkschafter und Autor. Er forscht und veröffentlicht zur Rechtssituation der Dalit und Adivasi, sowie über die Situation in indischen Haftanstalten und die Rechte der Gefängnisinsassen. In den Jahren 1978/79 war er aktiv an Studentenprotesten in Mazagaon beteiligt. Nach seinem Studium arbeitete er als Kundenbetreuer bei Siemens, schloss sich aber bald der linken Jugendorganisation Naujawan Bharat Sabha (NBS) an. In Chandrapur begann er mit der Organisierung der Arbeiter(inn)en in den informellen Sektoren im Kohlebergbau und in der Zement- und Papierindustrie. 1988 gründete er die Gewerkschaft Akhil Maharashtra Kamgar Union. Vernon Gonsalves setzt sich vehement für die Abschaffung des UAPA ein, das dem Missbrauch gegen dissidente Wissenschaftler(inn)en, Anwält(inn)en und Menschenrechtsaktivist(inn)en Tür und Tor geöffnet hat. 2007 wurde er durch eine Anti-Terror-Einheit in Andheri (East) in Mumbai verhaftet und beschuldigt, ein hochrangiger Naxalit zu sein und mit anderen Sprengstoffanschläge an verschiedenen Orten in Mumbai geplant zu haben. 2013 wurde er verurteilt. Da er bereits sechs Jahre eingesessen war, konnte er das Gefängnis umgehend verlassen. Die Anwältin und seine Partnerin Susan Abraham hat gemeinsam mit Arun Ferreira die Verteidigung der fünf im Juni verhafteten Menschenrechtsaktivist(inn)en übernommen.


Varavara Rao ist ein bekannter Dichter und Schriftsteller (siehe Gedicht im Literaturteil). Er ist Kommunist und Aktivist aus Telangana. Der heute 78-jährige Varavara Rao schreibt seit 1957 und lehrt seit 40 Jahren Telugu-Literatur. Er gilt als fundierter marxistischer Kritiker im Telugu-sprachigen indischen Raum. 1966 gründete er die Vierteljahreszeitschrift Srujana („Creation“), ein Forum für moderne Literatur in Telugu, die später als monatliches Heft erschien (bis 1992). Er ist Gründungsmitglied der Schriftstellervereinigung Viplava Rachayitala Sangahm, bekannt unter dem Akronym Virasam. Varavara Rao beteiligt sich immer wieder an politischen und sozialen Aktivitäten und prangert dabei Klassenherrschaft und Verstöße gegen die Menschenrechte an. Mehrfach wurde er wegen seiner politischen Aktivitäten inhaftiert und verbrachte insgesamt sechs Jahre in Haft. Zwischen 2001 und 2004 war er als Abgesandter der Communist Party of India (Marxist-Leninist) Peoples War an den Friedensverhandlungen mit der Landesregierung von Andhra Pradesh beteiligt. Die Verhandlungen endeten mit dem Verbot der Peoples War Group. Seine Tochter Pavana und deren Ehemann K.Satyanarayana berichteten in der Presse, dass es bei der Hausdurchsuchung in ihrer Wohnung auch zu diskriminierenden (K.Satyanarayana stammt aus einer Dalit-Familie) und sexistischen Verbalattacken der Polizei gekommen sei.

http://www.buko.info/Gautam Navlakha ist Menschrechtsaktivist und Redakteur des angesehenen wissenschaftlichen Journals Economicand Political Weekly aus Mumbai. Er ist Gründungsmitglied und langjähriger Vorsitzender der People’s Union for Democratic Rights (PUDR), die sich für demokratische und bürgerliche Freiheitsrechte engagiert. Im Jahr 2008 war er einer der Organisatoren des Internationalen Tribunals zu Menschenrechten und Gerechtigkeit in Kaschmir. Seit langen tritt Gautam Navlakha für die Abschaffung der Anti-Terror-Sondergesetzgebung wie das UAPA-Sondergesetz, den Prevention of Terrorism Act, 2002 (POTA) und den Terrorist and Disruptive Activities (Prevention) Act ein. Die PUDR-Dokumentation The Missing Terror Plot: Bhima Koregaon and the Politics of UAPA vom 5. September 2018 kommt zu dem Schluss, dass das Sondergesetz UAPA genau für Situationen wie die aktuelle gemacht sei, um oppositionelle Aktivist(inn)en polizeilich verfolgen zu können.

Arun Ferreira ist Menschenrechtsanwalt und Mitglied der Bürgerrechtsorganisation Committee for Protection of Democratic Rights (CPDR) und der IAPL. Mehrfach hat die IAPL kritisiert, dass gegen Anwältinnen und Anwälte Klage erhoben wird, weil sie Mandant(inn)en vertreten, die unter Verdacht stehen an terroristischen Aktivitäten teilgenommen zu haben. Arun Ferreira verbrachte selbst fünf Jahre im Gefängnis unter Heranziehung des UAPA-Sondergesetzes. 2012 konnte er seine Freilassung auf Kaution erreichen, zwei Jahre später wurde er von allen Anklagepunkten freigesprochen. Im laufenden Verfahren hat er bei einer Anhörung vor dem Gericht in Pune von Misshandlungen während des Polizeigewahrsams am 4. November 2018 berichtet.

Surendra Gadling arbeitet seit 25 Jahren als Anwalt in Nagpur und vertritt viele Gefangene die maoistischen oder extremistischen Vereinigungen angehören sollen. Vor einigen Jahren vertrat er Arun Ferreira. Surendra Gadling ist selbst Aktivist und setzt sich besonders für die Rechte der Dalit ein. Er war Mitglied einer unabhängigen Kommission, die im April 2018 die außergerichtlichen Tötungen von 40 mutmaßlichen Maoisten durch die Polizei untersuchte. Im Mai reiste er mit einem Team nach Kaschmir, um die Strafverfolgung dortiger Menschenrechtsanwält(inn)en an die Öffentlichkeit zu bringen.

Sudhir Dhawale ist Dichter, Schriftsteller, politischer Kommentator und Herausgeber von Vidrohi, einem linksgerichteten Magazin in Marathi-Sprache mit Schwerpunkten auf Arbeitsverhältnisse, Landfragen, Bildung, Gesundheit, Kastendiskriminierung. Er ist Begründer der Dalit Organisation Republican Panthers. 2011 wurde er wegen maoistischer Aktivitäten verhaftet und für 40 Monate inhaftiert, später jedoch von allen Anklagepunkten freigesprochen. Ein Kollege bei den Republican Panthers sagt über ihn: „Er ist auch ein guter Organisator mit der Fähigkeit die Jugend zu mobilisieren. Das ist etwas, was die Regierung in Schrecken versetzt“. Surendra Dhawale war einer der Organisatoren der öffentlichen Versammlung vom 31. Dezember 2017 in Pune. Nach den Ausschreitungen hat er mit anderen Aktivist(inn)en und Anwält(inn)en Hinweise und Beweise gesammelt, um die Hintergründe der Ausschreitungen zu dokumentieren und dies den Behörden für die Aufklärung der Ereignisse zur Verfügung zu stellen.

Mahesh Raut hat am Tata Institute of Social Sciences in Mumbai studiert und ist heute einer der führenden Aktivisten für die Rechte der Adivasi im Distrikt Gaddchiroli in Maharasthra. Er ist zugleich einer der Organisatoren von Visthapan Virodhi Jan Vilas, eine nationale Bewegung die gegen die Vertreibung von benachteiligten und marginalisierten Communities kämpft. Er ist ebenso Mitglied der Bewegung Bharat Jan, einer NGO im Menschenrechtsbereich. Mahesh Raut ist zudem führend im der Kampagne gegen die Ausweitung des Bergbaus und gegen Kastendiskriminierung im Distrikt Gadchiroli aktiv.

Shoma Sen ist Professorin für Englisch an der Universität in Nagpur und Frauenrechtsaktivistin mit engen Verbindungen zu bekannten feministischen Organisationen in Indien. Sie ist gleichzeitig Mitglied des CPDR. Ihre Beteiligung an politischen Bewegungen hat sich mit der Aufnahme der Lehrtätigkeit in Nagpur stark verringert. Die Literatur, die die Polizei bei der Hausdurchsuchung am 6. Juni 2018 beschlagnahmt hat - kommunistische Basistexte - „findet man in jedem linksgerichteten Haushalt“, bemerkte dazu Shoma Sen's Tochter.

Rona Jacob Wilson ist ein Menschenrechtsaktivist und leitete die Öffentlichkeitsarbeit der Gefangenenhilfsorganisation Committee for the Release of Political Prisoners (CRPP) in Delhi. Er hatte es somit mit Gefangenen zu tun, die sich alle in der einen oder anderen Weise regierungskritisch äußern, darunter „Terroristen“ aus Kaschmir und viele, die die im Rahmen des Gesetzes über unrechtmäßige Aktivitäten angeklagt wurden.

 

 

Zum Autor

Jürgen R. Gertsch (Berlin/Bern) ist freier Journalist und Erziehungswissenschaftler mit den Schwerpunkten Stadt- und Sozialpolitik, Südasien und Internationale Beziehungen