Zum Begriff „soziale Rechte“ hatten radikale Linke über Jahrzehnte ein eher zwiespältiges Verhältnis. Natürlich war niemand dagegen, Rechte zu haben, auch waren Linke immer für die Erweiterung gegebener und die Durchsetzung neuer Rechte. Der Kampf um Rechte aber stand stets im Verdacht der reformistischen Beschränkung, denn Rechte waren und sind eine Einrichtung des bürgerlichen Staates und Gesellschaft, um deren Abschaffung es der radikalen Linken ging (und geht). Bei allen Unterschieden ziel(t)en Kommunismus wie Anarchismus zuletzt auf die Rücknahme des Staates und damit auch des formellen Rechts. Bis dahin unterhält man ein taktisches Verhältnis hierzu, bezieht sich darauf, wo Kämpfe um Rechte zu mobilisieren sind, setzt sich davon ab, wo es gilt, „geltendes“ Recht zu brechen und zu überschreiten.
Im Kern ist das auch heute noch richtig, und doch hat sich einiges geändert. Das resultiert zum einen aus der zum Teil traumatischen Erfahrung des Unrechts, das die Linke des 20. Jahrhunderts zu verantworten hat, die dazu auf die Gewalt eigener Staatsapparate zurückgreifen konnte. Auch deshalb ist Linken heute nicht mehr so umstandslos klar, was „nach“ der bürgerlichen Gesellschaft, ihrem Staat und dessen Rechtsordnung kommen wird. In dieser strukturellen Ungewissheit kann ein radikaler Begriff sozialer Rechte auf emanzipative Vorstellungen gesellschaftlicher Verhältnisse verweisen, um deren Verwirklichung es Linken geht.
Die Veränderung im linken Verhältnis zum Recht resultiert aber auch aus der fortschreitenden Liquidation errungener Rechte unter dem Regime neoliberaler Politik. Dieses produziert systematisch Ungleichheit und begründet dies in einer Mischung aus zynisch entfesseltem Konkurrenzindividualismus und pflichtethisch aufgeladenem Standortnationalismus: Rechte hat, wer sie sich gegen andere als Vorrecht zu sichern weiß und dabei den Pflichten nachkommt, die Staat und Kapital zwar unterschiedlich verteilen, doch letztlich allen abverlangen. Wo sich dagegen Widerstand regt, werden (noch) geltende Rechte verteidigt oder erweiterte Rechte eingefordert. In beiden Fällen sind Linke zum Handeln aufgerufen, nicht zuletzt, um dabei Illusionen über bürgerliches Recht zu zerstreuen, die in Illusionen über den bürgerlichen Staat ihren Ursprung haben.
Erschwert wird jene Form der Intervention, weil sich auch herrschende Ideologie aufs Recht beruft: Imperiale Militärinterventionen, mit denen der Fortgang kapitalistischer Globalisierung gesichert und „Weltordnung“ geschaffen werden soll, erfolgen im Namen universeller Menschenrechte. Letztere werden gleichermaßen mit Füßen getreten, wenn es um das Recht von Nationalstaaten, des Marktes und der Börse auf störungsfreie Abläufe geht. Dafür werden all jene ausgegrenzt, die nicht dazugehören: MigrantInnen, Sozialschmarotzer, widerspenstige Arbeitskraft, TrägerInnen gefährlicher Viren, Kriminelle, Subversive, kurz: unproduktives und gefährliches Leben.
Wo also anfangen im Kampf ums Recht und um Rechte? Selbstverständlich können Linke von der Verteidigung geltender Rechte nicht ablassen, wenn diese von Staat und Kapital aufs Spiel gesetzt werden. Doch hat erfahrungsgemäß den Kampf schon verloren, wer sich auf die Defensive beschränkt. Und selbstverständlich bleibt die geltende Rechtsordnung auch unter neoliberalem Druck das, was sie war: ideologischer Ausdruck des fordistischen Klassenkompromisses. Folglich beginnt linker Kampf ums Recht erst dort, wo neue Rechte gefordert werden, die über geltendes Recht hinausgehen und das Feld eines sozialen Kampfes eröffnen, dessen Ausgang noch ungewiss ist.
Ein Beispiel dafür ist der Kampf der MigrantInnen um ein Recht auf Legalisierung ihres Aufenthalts. In diesem Kampf wird nicht nur ein Recht eingefordert, das einige „von Geburts wegen“ haben, sondern ein Recht, das die bisherige Rechtsordnung überschreitet. Denn hier geht es um die Transnationalisierung des Rechts, die unabhängig von der Herkunft jedeN am Ort des Aufenthalts zur TrägerIn sozialer Rechte macht. Dabei macht das Wörtchen „Recht auf...“ einen entscheidenden Unterschied zu Bleiberechtsforderungen, denn es geht um das Recht auf Legalisierung des Aufenthalts, das die nicht in Anspruch nehmen müssen, die Gründe haben, es nicht zu tun. Zum andern aber ist die Einforderung eines solchen formalen, d.h. vom Staat garantierten Rechts nur möglich, weil die, die es fordern, sich ihr Recht auf freien Aufenthalt am Ort ihrer Wahl schon genommen haben. Diese mannigfachen Aneignungsstrategien „von unten“ sind die Voraussetzung des Kampfs um formelle Anerkennung „von oben“ – dann aber ist der Unterschied von reformistischer Anerkennungs- und revolutionärer Aneignungspolitik, von Politik im Staat und Politik gegen den Staat schon überschritten.
Diese Bewegung findet auch anderswo im Kampf um die nachträgliche Anerkennung „illegaler“ Landnahmen oder Hausbesetzungen, aber auch in der aktuellen Streikbewegung der französischen KulturarbeiterInnen statt. Sie verteidigen nicht nur die gesetzlich garantierte Absicherung ihrer befristeten Arbeitsverhältnisse, sondern zugleich ein Recht, das sie sich individuell längst genommen haben: das Recht auf Ablehnung eines „Normalarbeitsverhältnisses“, d.h. das Recht auf einen – sozial abgesicherten – Wechsel von Zeiten der Lohnarbeit und der Nicht-Lohnarbeit. Einen branchenspezifischen Reformismus haben die KulturarbeiterInnen in dem Augenblick überschritten, in dem sie dies ausdrücklich zum Recht aller Prekarisierten erhoben und damit eine Option betonen, welche die neoliberalen Verhältnisse zum Tanzen bringen kann. Dann jedenfalls, wenn andere sie zu ihrer eigenen machen und dort beginnen, wo alles anfängt: in der Weigerung, die Lebens- und Arbeitsbedingungen hinzunehmen, die Staat und Kapital durchzusetzen suchen, und zu versuchen, hier und jetzt andere Verhältnisse zu schaffen. Für Linke versteht sich das von selbst, nicht nur aus distanzierter strategischer Reflexion, sondern aus existenzieller eigener Betroffenheit. Oder?
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