Jenseits der „Kolonialität von Geschlecht“ – De- und Postkoloniale Perspektiven auf Entwicklung, Gender und Sexualität
Call for Papers, PERIPHERIE, Ausgabe 157 (erscheint im April 2020)
Geschlechtliche und sexuelle Seinsweisen sind vielfältig und widersprüchlich. Im Kon-
text postkolonialer Machtgefüge überlagern sich koloniale Vorstellungen mit indigenen
Konzepten verschiedener Männlichkeiten, Weiblichkeiten sowie dritten Geschlechter-
räumen, so dass ein bis heute umkämpftes Feld entstanden ist. Feministische und
Frauenbewegungen im Globalen Süden streiten für gleiche Rechte, legalen Status und
Repräsentation und eignen sich dabei westliche Konzepte wie „Feminismus“ oder
„queer“ auf strategische Weise an. De- und postkolonialen Perspektiven auf Gender und
Sexualität oder Lebensweisen von LSBTIQ (Lesbisch Schwul Bi Trans* Inter* Queer)
geht es darum, soziale Verhältnisse hinsichtlich ihres Potenzials für Widerstand und
die Entstehung subversiver (Gender-)Praktiken und Wissensformen zu untersuchen. Sie
befassen sich dementsprechend intensiv mit Forschungsfeldern wie mit den Aktivitäten
sozialer Bewegungen, mit Rechtspraxis und Dissidenz sowie mit Einfl uss und Verände-
rungsmomenten der Entwicklungszusammenarbeit.
Entwicklungszusammenarbeit war und ist von westlichen und heteronormativen
Vorstellungen über Geschlechterordnungen in den „zu entwickelnden“ Gesellschaften
geprägt. Während modernisierungstheoretische Konzepte weitgehend darauf verzich-
teten, sich mit den Adressat*innen eingehender auseinanderzusetzen, entdeckten spä-
tere Konzepte – etwa im Rahmen des Grundbedürfnisansatzes – in den 1970er Jahren
schließlich „Frauen“ als neue entwicklungspolitische Subjekte, die es zu fördern galt.
Zwar hat der Einzug von gender mainstreaming dazu geführt, dass Entwicklungszu-
sammenarbeit unterschiedliche gleichstellungspolitische Werkzeuge einsetzt, um bspw.
das jeweilige Geschlechterverhältnis zu analysieren, Vulnerabilitäten von Frauen und
Männern zu identifi
zieren und gleichstellungspolitische Lösungen zu entwerfen. Trotz-
dem dominiert eine „heterosexuelle Matrix“ (Butler 1990) weiterhin Wahrnehmung
und entwicklungspolitisches Handeln. Innerhalb dieser Logik (re-)produziert ein binär
strukturiertes Entwicklungsdenken immer wieder neue, auf Geschlecht und Sexualität
bezogene Dichotomien.
Gleichzeitig fi nden queere Themen langsam Einzug in die Entwicklungspolitik. Im
Jahre 2007 wurden durch die International Commission of Jurists, den International
Service for Human Rights und weitere Menschenrechts-Aktivist*innen die Yogyakarta-
Prinzipien veröffentlicht. Sie formulieren alternative menschenrechtliche Prinzipien für
sexuelle und geschlechtliche Vielfalt, und haben auch die Entwicklungszusammenarbeit
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Call for Papers
Jenseits der „Kolonialität von Geschlecht“
dazu motiviert, sich zusehends auch mit Lebensrealitäten jenseits der Zweigeschlechtlich-
keit zu befassen. Allerdings treten hier neue Problematiken auf, etwa wenn (dichotome)
Dynamiken des othering, des Fremdmachens, fortgeführt werden. So wird weiterhin
„der Norden“ als liberal, aufgeklärt und queer konzipiert, während „der Süden“ als
unaufgeklärt, homo- und transphob oder fundamentalistisch-religiös erscheint. Derartige
Sichtweisen unterschlagen bspw., dass die Gesetze, die sambischen Schwulen, Lesben und
Trans-Personen jegliche Artikulationsmöglichkeit nehmen oder ugandische Queers mit
der Todesstrafe bedrohen, auf koloniale Rechtsgrundsätze verknüpft mit christlichem
Hintergrund zurückgehen. Um in feministisch-solidarischer Weise lesbische, schwule,
homosexuelle, trans- und inter-Personen und communities in Kämpfen und Alltag zu
unterstützen, müssten westliche Annahme von Geschlecht und Sexualität dekolonisiert
oder (zumindest) die Verquickung von Kolonialgeschichte, d.h. der „eigenen“ kulturel-
len Traditionen gegenüber dem „Anderen“ sowie modernen Missionsstrategien (etwa
Pfi ngstkirchen) offengelegt werden.
Zudem bleiben die Debatten über LSBTIQ von Ambivalenzen und Widersprüchen
geprägt. „Queer“ ist ein Konzept, das ursprünglich aus den Kämpfen US-amerikanischer
Lesben, Schwuler, Bisexueller und Trans*personen Ende der 1980er Jahre gegen essen-
zialistische Identitätspolitiken im Kontext von AIDS-Krise, Homophobie, Rassismus
und homosexueller Normalisierung resultierte. Später wurde queer im universitären
Kontext als theoretische Brille ausformuliert, die sex und gender als performativ
betrachtet und die natürliche Beschaffenheit von Geschlecht in ihren Wirkungsweisen
de- und re-konstruiert. Feministische und/oder Frauen und Lesben-Bewegungen im
Globalen Süden haben sich – mit Bezug auf kollektive Lebensweisen und Kritik an
einem (neo-)liberalen Subjektverständnis, auf die sozialen Realitäten und Kämpfe von
marginalisierten Frauen* und auf die Materialität von Geschlechterordnungen – mit
„queer“ als einer vermeintlich westlich emanzipativen Politik teilweise weniger gut
anfreunden können. So haben dekoloniale Denker*innen wie Oyéronké Oyewùmí oder
María Lugones darauf verwiesen, dass präkoloniale Geschlechterordnungen vielfältiger
gestaltet waren als es die heterosexuelle Matrix vorsieht. Sie haben gezeigt, dass gender
ein koloniales Produkt ist, das systematisch und auf brutale Weise eingeführt wurde,
um Menschen, Kosmologien und Gemeinschaften zu „zivilisieren“. Andererseits fi nden
auch postkoloniale „Übersetzungsprozesse“ statt, durch die queer als ein individuell-
emanzipatorisches Konzept im Sinne einer „enabling violation“ (Spivak) wirken kann.
Forschung zur Positionierung von LSBTIQ-Bewegungen im Globalen Süden und zu
queerer Entwicklungszusammenarbeit steht noch weitgehend am Anfang. Wir sind der
Meinung, dass es höchste Zeit ist, dies zu ändern. Das Schwerpunktheft soll Beiträge zu
den folgenden – gerne aber auch weiteren individuell gewählten – Themen versammeln:
-
Der „queer turn“ in der westlichen Entwicklungszusammenarbeit: Was bedeutet
„queer entwickeln“, und inwiefern gehen diese Ansätze über die Kolonialität von
Geschlecht hinaus?
-
Welche Übersetzungs- und Aneignungsprozesse sind notwendig, um post- und
dekoloniale Ansätze von Feminismus, Geschlecht und Sexualität zu verknüpfen?
Welcher Analysestrategien bedarf es?
- Soziale Bewegungen und Aktivismus von LSBTIQ: Was sind wesentliche Bedin-
gungen für transnationale Solidarität und Kooperation zwischen westlichen und
nicht-westlichen Feminismen?
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Jenseits der „Kolonialität von Geschlecht“
Cal l for Papers
-
-
Sexismus und Heteronormativität in Freiwilligendiensten
Queere Entwicklungszusammenarbeit und ihre Subjekte/Objekte, kritische Analyse
bestehender Programme von Organisationen wie GIZ, DFID, USAID oder Norad
-
-
Indigener Feminismus, indigene Geschlechterpolitiken, dritte Geschlechterräume
Queere Rechtsreformen im Globalen Süden: Welche progressiven Politiken fi
nden
sich, wie verändern sich Geschlechterverhältnisse und Ordnungen, welche Wider-
sprüche entstehen?
Redaktionsschluss für Artikel ist der
2. September 2019
Manuskripte, Rücksprachen zu möglichen Beiträgen und weitere Fragen richten Sie
bitte an info@zeitschrift-peripherie.de. Weitere Hinweise für Autor*innen stehen auf
unserer Website unter www.zeitschrift-peripherie.de zum Herunterladen bereit.
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Beyond the “Coloniality of Gender”: Decolonial and Postcolonial Perspectives on Development, Gender and Sexuality
Call for Papers, PERIPHERIE, Issue 157 (to be published in April 2020)
Sexual orientations and gender identities are highly diverse and shaped by multiple
contradictions. In the context of postcolonial power structures, colonial ideas pervade
indigenous concepts of different masculinities, femininities and third genders (e.g. two
spirit), thereby creating deeply contested terrains. Struggling for equal rights, legal
status, and representation, feminist and women’s movements in the Global South are
strategically adopting western concepts of “feminism” or “queerness”.
De- and postcolonial perspectives on gender and sexuality or on LGBTIQ (lesbian
gay bi trans* inter* queer) aim at investigating the social world especially with regard to
potentials for resistance, and with a focus on subversive (gender-)practices and episte-
mologies. Research engages intensively with social movement activities, judiciary power
and dissidence, as well as with power structures and transformation within international
development cooperation.
Indeed, international development cooperation has been and is still shaped by
western and heteronormative ideas about gender hierarchies that are transferred to
societies seemingly in need of “development”. While interventions based on mod-
ernization theory had mostly neglected questions of sex and gender, concepts such as
the “basic needs” approach discovered “women” as the new “poster girls” showcasing
successful and contextualized development cooperation. Since the 1990s the rise of
“gender mainstreaming” resulted in several gender assessment tools that constituted
the basis for vulnerability analysis and for gender-sensitive policy-making. Still, the
“heterosexual matrix” (Butler 1990) dominates both perception and practice in the fi
eld
of international development cooperation. Within this logic, development coopera-
tion still exhibits binary thinking and keeps (re-)producing dichotomies with regard to
gender and sexuality. At the same time, queer topics are increasingly met with positive
response by international development politics. In 2007, the International Commis-
sion of Jurists, the International Service for Human Rights, and other Human Rights
activists adopted the Yogyakarta Principles. They comprise 29 alternative principles for
promoting and safeguarding sexual and gender-related diversity. Since then they have
motivated international development politics to engage more intensively with social
realities beyond a bi-gender matrix.
In this context, however, new problems are materializing, for example when (dichoto-
mous) dynamics of othering are reproduced even within a more inclusive agenda. While
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Call for Papers
Beyond the “Coloniality of Gender”
the “Global North” is still being conceptualized as liberal, enlightened and queer,
“the South” in turn is portrayed as homo- and transphobic, religiously fundamentalist
and lacking enlightenment. These perceptions obscure the fact that many laws which
criminalize lesbians and gays for instance in Zambia or Uganda are based on colonial
principles of law combined with a Christian background.
To support lesbian, gay, homosexual, trans- and inter*persons and communities in
their everyday struggles in a feminist way and in a spirit of solidarity, western under-
standings of gender and sexuality need to be decolonized. Furthermore, the ways in
which colonial histories, i.e. “own” cultural traditions and their intertwining with western
secular or missionary concepts, need to be systemically reconstructed.
Still, any debate about LGBTIQ in the Global South is characterized by ambiva-
lences and contradictions. “Queer” is a concept that originally evolved towards the end
of the 1980s from the struggles of lesbian, gay, bisexual and trans-people and was used
to counter essentialist identity politics in the context of the AIDS-crisis, homophobia,
racism and homosexual normalization. Later, “queer” made its way into academia and
found appraisal as a theoretical approach, which considers gender and sex as performative
and de-/reconstructs a naturalized understanding of gender and its effects. Still, feminist
and/or women and lesbian movements in the Global South have not adopted the idea
of “queer” without critique. Given that queer is perceived as an element of western
individualist politics, it may in fact stand in the way of collective livelihoods and may
support an individualized and neo-liberal understanding of the subject, which fails to
refl ect the social realities and struggles of marginalized women* and the materiality of
gender hierarchies. As a result, decolonial thinkers such as Oyéronké Oyewùmí or María
Lugones have pointed out that precolonial gender relations have been more diverse
than the heterosexual matrix actually assumes. They have pointed out that gender is a
colonial product which was introduced systematically, and brutally, to “civilize” people,
cosmologies and communities. Still, postcolonial “translation processes” are taking
place and in this light, queer may work as an emancipatory concept on an individual
basis, in the sense of an “enabling violation” (Spivak).
Research on LGBTIQ movements in the Global South and on queer development
cooperation is still in its initial stage. We are convinced that it is high time to change
this. For this special issue we kindly invite contributions concerning the following top-
ics (as well as further topics that may be individually chosen):
- The “queer turn” in Western development cooperation: what does “queer” devel-
opment mean and how do these approaches transgress the coloniality of gender?
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Cross-pollinations: Which processes of adaptation and translation are necessary for
intertwining post- and decolonial approaches with feminism, gender and sexuality?
Which analytical strategies seem adequate for doing so?
-
Social movements and activism by LGBTIQ: Which conditions are required for
developing more intense solidarities and for deepening cooperation between Western
and non-Western Feminisms?
-
-
(Un-)usual suspects? Sexism and heteronormativity in volunteer work;
Queer development cooperation and its subjects/objects: critical analyses of existing
programs by organizations such as GIZ, DFID, USAID or Norad;
-
Indigenous feminism, indigenous gender practices, third gender spaces.
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Beyond the “Coloniality of Gender”
Call for Papers
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Queer legal structures in the Global South: which progressive politics can be found,
how are gender-relations and orders changing and which contradictions appear
along the process?
The submission deadline for articles is September 2, 2019. Articles may comprise
6,000 to 10,000 words (absolute maximum). All research articles are subject to a dou-
ble-blind peer review process. Besides, shorter pieces (interviews, essays, activist state-
ments) may also be published. if they correspond to the aims of the CfP.
For manuscripts, consultations about potential contributions and further questions,
please contact the editors of the special issue:
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Franziska Müller: fmueller@uni-kassel.de
Miriam Friz Trzeciak: trzeciak@b-tu.de